Mittwoch, 6. Dezember 2017

"I notice that Autumn is more the season of the soul than of nature." Friedrich Nietzsche (angeblich)

Pseudo-Friedrich-Nietzsche quote.
Dieses auf Englisch im Internet weit verbreitete Nietzsche-Zitat (Google) ist eine Fabrikation des 21. Jahrhunderts, wahrscheinlich noch nicht einmal 10 Jahre alt, und es ist weder in digitalisierten deutschen noch in englischen Büchern zu finden.

Es ist also ein Falschzitat eines unbekannten Autors oder einer unbekannten Autorin.

 Varianten:
  • "Notice that Autumn is more the season of the soul than of Nature.”
  • "I notice that Autumn is more the season of the soul than of nature."
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Friedrich Nietzsche:

  •                  Im deutschen November.
    Dies ist der Herbst: der — bricht dir noch das Herz!
    Fliege fort! fliege fort! —
    Die Sonne schleicht zum Berg
    Und steigt und steigt
    und ruht bei jedem Schritt.

    Was ward die Welt so welk!
    Auf müd gespannten Fäden spielt
    Der Wind sein Lied.
    Die Hoffnung floh —
    Er klagt ihr nach.

    Dies ist der Herbst: der — bricht dir noch das Herz.
    Fliege fort! fliege fort!
    Oh Frucht des Baums‚
    Du zitterst‚ fällst?
    Welch ein Geheimniß lehrte dich
    Die Nacht‚
    Daß eis’ger Schauder deine Wange‚
    Die Purpur-Wange deckt? —

    Du schweigst‚ antwortest nicht?
    Wer redet noch? — —

    Dies ist der Herbst: der — bricht dir noch das Herz.
    Fliege fort! fliege fort! —
    „Ich bin nicht schön
    — so spricht die Sternenblume —
    Doch Menschen lieb’ ich
    Und Menschen tröst’ ich —
    sie sollen jetzt noch Blumen sehn‚
    nach mir sich bücken
    ach! und mich brechen —
    in ihrem Auge glänzet dann
    Erinnerung auf‚
    Erinnerung an Schöneres als ich:

    — ich seh’s‚ ich seh’s — und sterbe so.“ —

    Dies ist der Herbst: der — bricht dir noch das Herz!
    Fliege fort! fliege fort!
Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Herbst 1884  (Link)


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Quellen:
2013: (Link)
Google
Friedrich Nietzsche: Digitale Kritische Gesamtausgabe der Werke und Briefe, basierend auf der Ausgabe von G. Colli und M. Montinari, Berlin/New York, de Gruyter: 1967ff., hrsg. von Paolo D’Iorio (Link) 

Samstag, 2. Dezember 2017

"Der Antisemitismus ist der Sozialismus des dummen Kerls." August Bebel (angeblich)

Pseudo-August-Bebel-Zitat.
Dieses Zitat wird seit etwa siebzig Jahren irrtümlich dem deutschen Sozialdemokraten August Bebel zugeschrieben. 

Als August Bebel 1894 in einem Gespräch mit Hermann Bahr den Spruch Ferdinand Kronawetters zitiert, distanziert er sich gleichzeitig davon.


August Bebel, 1894:

  • "Bei Ihnen hat man einmal gesagt — ich glaube, es war Kronawetter —: 'Der Antisemitismus ist der Sozialismus des dummen Kerls.'  

    Das ist ein hübscher Einfall, aber er trifft doch die Sache nicht. Die eigentlichen Träger des Antisemitismus, das kleine Gewerbe und der kleine Grundbesitz, haben von ihrem Standpunkte aus nicht so Unrecht. ..."
  • In: Hermann Bahr: "Der Antisemitismus. Ein internationales Interview", 1894  (Archive.org)

Ferdinand Kronawetter, 1889: 

  • "Als Verräther, als Juden und Judenknecht werden wir Demokraten bezeichnet. Das sind wir nicht, aber wir sind auch keine Stiefelputzer der Liechtenstein, wir sind keine Pfaffenknechte, keine Heuchler, welche als Demokraten den telegraphischen Segen des Papstes kniend und augendrehend in Empfang nehmen. (Stürmischer Beifall) Der Antisemitismus ist nichts als der Socialismus des dummen Kerls von Wien (schallende Heiterkeit), denn welcher vernünftige Mensch kann glauben, daß die Zukunft besser wird, wenn man das Volk in das finstere Mittelalter zurückführt?"
  • Ferdinand Kronawetter, bei der Generalversammlung des Margaretner Wählervereins, in den "Drei Engel"-Sälen, am 23. April 1889, Neue Freie Presse (Link)
 Der Wiener Reichsratsabgeordnete Ferdinand Kronawetter, der sich von Karl Lueger trennte, als der sich antisemitischen Strömungen anbiederte, hat am 23. April 1889 dieses Zitat geprägt. 

Kronawetter  war eine Hassfigur der Wiener Antisemiten, aber ein hochgeschätzter politischer Partner der Sozialdemokraten. Die Stadt Wien verdankt ihm gute Initiativen; er stritt mit liberalen Grundsätzen gegen die Liberalen und gegen die Christlich-Sozialen.

Ferdinand Kronawetter ist heute vergessen, aber sein Aphorismus lebt auf der ganzen Welt weiter, allerdings wird er oft August Bebel, in Italien Lenin, in Spanien Karl Marx und hie und da auch den österreichischen Sozialdemokraten Victor Adler oder Engelbert Pernerstorfer unterschoben.

Varianten:


1890:  "wie Abgeordneter Kronawetter einst richtig bemerkte: der Antisemitismus ist
            der Socialismus des 'dummen Kerls von Wien'."
1893:   "'Der Antisemitismus', sagte Dr. Kronawetter in Bezug auf die Wiener Bewegung
             derb, 'ist der Socialismus der dummen Kerls.'" 
1893:   "Ausspruch Kronawetter's, daß der Antisemitsmus der Socialismus der dummen Kerle ist".    
1894:   "Wobei das bekannte Wort des österreichschen Reichsrathsabgeordneten Dr. Kronawetter
             citiert wurde: Der Antisemitismus ist der Socialismus des dummen Kerls.'"

             citiert wurde: Der Antisemitismus ist der Socialismus des dummen Kerls.'"
1895:   Als die antisemitische Partei in Wien auftauchte, das sagte Kronawetter in seiner
            drastischen Weise: 'Der Antisemitismus ist der Socialismus des dummen Kerls von Wien.'"

            drastischen Weise: 'Der Antisemitismus ist der Socialismus des dummen Kerls von Wien.'"
1897:  "Der Antisemitismus ist die Politik des dummen Kerls von Wien!" 
1919: "Viktor Adler war es wohl, der einmal sagte, daß der Wiener Antisemitismus der
            Sozialismus der dummen Wiener Jugend ist."
  • "Der Antisemitismus ist der Sozialismus des dummen Kerls von Wien."
  • "Der Antisemitismus ist der Sozialismus der dummen Kerle."
  • "Der Antisemitismus ist der Sozialismus der dummen  Mannes."
  • "Der Antisemitismus ist der  Sozialismus der Dummen." 
  • "Anti-Semitism is the socialism of fools."
  • "Anti-Semitism is the socialism of imbeciles."
  • "L'antisémitisme est le socialisme des imbéciles."
  • "L’antisemitismo è il socialismo degli imbecilli." 
  • "El antisemitismo es el socialismo de los tontos." 
 
Pseudo-Pernerstorfer-Zitat.
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Anmerkung:
 "Der dumme Kerl von Wien" war seit den 1860er Jahren ein Typus und eine satirische Figur in humoristischen Zeitschriften (Google Books); auch in der antisemitischen Satire-Zeitschrift "Kikeriki", die die schweinische Ironie des "Stürmers" vorwegnahm.
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— Leigh Hunt (@jhleighhunt) 1. Mai 2017

 


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Quellen:
Hermann Bahr: Der Antisemitismus. Ein internationales Interview. S. Fischer Verlag, Berlin: 1894, S. 21 (Link) 
1889: Neue Freie Presse, 24. April 1889, Abendblatt, S. 2
1890: Bukowiner Rundschau, 16. Januar 1890, S. 3
1893: Tages-Post, 26. Oktober 1893, S. 2
1893: Neue Freie Presse, 26. Juni 1893, S. 5
1894: Freies Blatt, 10. Juni 1894, S. 6
1895: Tages-Post, 5. Februar 1895, S. 1
1897: Badener Zeitung, 27. Oktober 1897, S. 3
1919: Jüdische Korrespondenz, 21. November 1919, S. 3
Wikiquote 
Google Books 
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Dank:
Ich danke Justus Radmacher für seine Recherchen.




"Hinaus mit dem Schuft aus Wien!" Karl Kraus (angeblich)

Karl Kraus Online, Wienbibliothek, Vorlesungsprogramm 8. Oktober 1925.


Mit der Parole "Hinaus aus Wien mit dem Schuft!" vom Juni 1925, die Karl Kraus in den folgenden Monaten noch oft wiederholte und die bald ein geflügeltes Wort wurde, gelang es Karl Kraus, die Öffentlichkeit und die Justiz gegen den korrupten Zeitungsverleger Imre Békessy erfolgreich zu mobilisieren. Dieser erpresserische "Schwerverleger" musste ein Jahr später Wien verlassen und flüchtete im Juli 1926 vor einem drohenden Strafverfahren nach Paris.
  • "Die Arbeiter-Zeitung (28. Juni) brachte die folgende Zuschrift des Kartenbureaus Richard Lányi:
    ‚Die Stunde‘ stellt in einer Notiz die Behauptung auf, daß dem Vortrag, den Karl Kraus am 25. Juni unter dem Titel: »Entlarvt durch Bekessy« im mittleren Konzerthaussaal gehalten hat, im ganzen 150 Personen beigewohnt haben. Als Veranstalter des Vortrags stelle ich fest, daß der Saal 882 zum Verkauf gelangende Plätze, außer den Pflichtplätzen, enthält, welche lange vor dem Abend vollständig vergriffen waren, daß noch auf dem Podium [hinter der spanischen Wand] Stühle aufgestellt werden mußten, daß der Saal überfüllt war, daß mehr als 1000 Personen abgewiesen worden waren, so daß sich auch der große Konzerthaussaal, den ich leider nicht gemietet hatte, als zu klein erwiesen hätte. 
    Und daß die mehr als 900 Anwesenden sich dem Rufe des Redners: »Hinaus aus Wien mit dem Schuft!« angeschlossen haben."
    Die Fackel Nr. 691-696, Juni 1925, S. 36
Diese Parole von Karl Kraus gehört heute noch zu seinen bekanntesten Zitaten und wird - so wie sein missverstandener Satz aus der Dritten Walpurgisnacht, "Mir fällt zu Hitler nichts ein",  - öfters mit falscher Wortfolge wiedergegeben (Google).

Wenn unseriöse Journalisten Karl Kraus zitieren, geht die Sache nicht nur bei diesem Zitat regelmäßig schief.

Ein Beispiel:
  • "In den 20er-Jahren des vorigen Jahrhunderts gab es in Wien den berüchtigten Herausgeber Imre Békessy. Mit seinem Krawallblatt 'Die Stunde' sank der Journalismus auf eine bis dahin nicht gekannte Niveaulosigkeit. Békessys schärfster Gegner war Karl Kraus, von dem der berühmte Satz überliefert ist: 'Hinaus mit dem Schuft aus Wien!'" 
    Michael Jeannée,  Kronen Zeitung,  4. Juni 2017 ( Link)
  • "'Hinaus mit dem Schuft aus Wien!'
    Zum Schluss seiner Kolumne zitiert Jeannée dann noch einen überlieferten Satz von Karl Kraus, den dieser in den 1920er Jahren seinem schärfsten Journalisten-Gegner Imre Békessy, der in den Kraus' Augen [mhm] ebenfalls ein "Krawallblatt" produzierte, entgegen warf: 'Hinaus mit dem Schuft aus Wien!'"
    Unzensuriert.at 5. Juni 2017 (Link)
 



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Quellen:
Google
Karl Kraus: Die Fackel Nr. 691-696, Juni 1925, S. 36; Nr. 697-705, Oktober 1925, S. 145-176
Karl Kraus: Vorlesungsprogramm, 8. Oktober 1925, Karl Kraus Online, Wienbibliothek (Link)
Arbeiter-Zeitung, Wien, 16. Juli 1926, S. 4 (Link)
Michael Jeanée,  Kronen Zeitung,  4. Juni 2017 (Link)
Unzensuriert.at 5. Juni 2017 (Link)
Mit veränderter Wortfolge zitierten den Satz zum Beispiel auch Walter Jens und Jörg Haider.
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Theodor W. Adorno erinnert sich, dass Karl Kraus, "das Recht in die eigene Hand nahm und 1925 in einer Vorlesung, die keiner vergessen wird, der zugegen war, den Herrn der 'Stunde', Imre Bekessy, mit den Worten 'hinaus mit dem Schuft aus Wien' von der Stätte seines Wirkens endgültig vertrieb." Theodor W. Adorno, Sittlichkeit und Kriminalität
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Artikel in Arbeit.

Freitag, 1. Dezember 2017

"Gute Künstler kopieren, große Künstler stehlen." Pablo Picasso (angeblich)

Pseudo-Pablo-Picasso-Zitat.
 Das Problem bei diesem berühmten Picasso-Zitat ist, dass es noch niemand in einem Text oder Interview Pablo Picassos gefunden hat. Populär wurde diese falsche Zuschreibung durch Steve Jobs, der sich mehrfach auf diese angebliche Picasso-Maxime, "Good artists copy. Great artists steal", bei der Entwicklung seines Macintosh Computers berufen hat.

Inzwischen wird dieser Aphorismus, über dessen Interpretation viel gestritten wird (Link), manchmal Steve Jobs selbst zugeschrieben.

Pseudo-Steve-Jobs-Zitat.
Garson O’Toole (Quoteinvestigator) ist der Evolution des Zitats nachgegangen. Am Anfang der Reihe stand ein Satz, der ungefähr das Gegenteil des späteren Pseudo-Picasso-Zitats behauptete:

1892
  • "Die großen Dichter ahmen nach und verbessern, während die kleinen stehlen und verschlechtern."
    W. H. Davenport Adams, 1892 (Quoteinvestigator)
1920
  • "Unreife Dichter imitieren; reife Dichter stehlen."
    T. S. Eliot:
    "Philip Massinger"  (Link) 
 1959
  • "Unreife Künstler entlehnen, reife Künstler stehlen."
    Marvin Magalaner paraphrasiert T.S. Eliot (Quoteinvestigator)
In den folgenden Jahrzehnten wurden Varianten dieses T.S.-Eliot-Aphorismus auch William Faulkner und Igor Strawinsky zugeschrieben und 1988 erstmals - von Steve Jobs - Pablo Picasso.

1996, Steve Jobs:
  • I mean Picasso had a saying he said good artists copy great artists steal. And we have always been shameless about stealing great ideas ehm and I think part of what made the Macintosh great was that the people working on it were musicians and poets and artists and zoologists and historians who also happened to be the best computer scientists in the world.
    Steve Jobs, June 1996, PBS TV special, Transcript (Link)

Ich empfehle dazu den ausführlicheren Artikel von Garson O’Toole, dem wir viele Entdeckungen zur Entwicklung dieses Spruchs verdanken.
 
2015
  • "Good artists copy; great artists steal; and most marketers misattribute."
    Jeremy Arnold  Quora.com
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Quellen:
Google
Garson O'Toole: "Hemingway Didn't Say That: The Truth Behind Familiar Quotations." Little A, New York: 2017, S. 17-23
Garson O’Toole, Quoteinvestigator:  "Good Artists Copy; Great Artists Steal. Steve Jobs? Pablo Picasso? T. S. Eliot? W. H. Davenport Adams? Lionel Trilling? Igor Stravinsky? William Faulkner? Apocryphal?" 2013 (Link)
T. S. Eliot: "Philip Massinger" in: The Sacred Wood. Essays On Poetry and Criticism. Methuen and Co., London: 1920, p. 114 Archive.org, (Link)
Steve Jobs, 1996: "Triumph of the Nerds: The Rise of Accidental Empires", PBS TV special,  June 1996, Transcript Part III (Link) (1. Dez. 2017)

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Dank:
Ich danke, wie so oft, Garson O'Toole.

Donnerstag, 30. November 2017

"Wer Sicherheit der Freiheit vorzieht, ist zu Recht ein Sklave." Aristoteles (angeblich)

Pseudo-Aristoteles quote.
Der Autor oder die Autorin dieses bei der Piratenpartei beliebten Aphorismus ist unbekannt. Erst  im 21. Jahrhundert wird er Aristoteles unterschoben und ist in dessen Werken unauffindbar.

Der Spruch könnte aus dem lateinischen Sprichwort, "Lieber gefahrvolle Freiheit, als ruhige Sklaverei", entstanden sein: "Malo periculosam libertatem, quam quietum servitium", war das Motto von Rafał Leszczyński, das sein Sohn, der polnische König Stanisław Leszczyński, überliefert hat und von Jean Jacques Rousseau in seinem "Du Contrat Social" und später von vielen anderen zitiert wird.


Varianten, die fälschlich Aristoteles zugeschrieben werden:
  • "Wer Freiheit aufgibt um Sicherheit zu gewinnen, ist zu Recht ein Sklave.“
  • "Wer Freiheit für Sicherheit aufgibt ist zurecht ein Sklave."
  • "Wer Sicherheit der Freiheit vorzieht, ist zu Recht ein Sklave." 

Auch Benjamin Franklin könnte den Spruch angeregt haben:

  • "Wer bereit ist, eine fundamentale Freiheit aufzugeben, um eine kurzfristige kleine Sicherheit zu erlangen, verdient weder Freiheit noch Sicherheit."
  • "Those who would give up essential Liberty, to purchase a little temporary Safety, deserve neither Liberty nor Safety."
    Benjamin Franklin, 1755 (Link)
Dieses Franklin-Zitat wird meistens verkürzt wiedergegeben:
  • "Der Mensch, der bereit ist, seine Freiheit aufzugeben, um Sicherheit zu gewinnen, wird beides verlieren."  
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Quellen:
Um 2002 erstmals Aristoteles zugeschrieben: Google
J.J. Rousseau: "Du Contrat Social" (Link); (Link)
Benjamin Franklin, 1755 (Link)  
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Artikel in Arbeit. Letzte Änderung 28/8 2019

Mittwoch, 29. November 2017

"Freiheit stirbt mit Sicherheit." Kurt Tucholsky (angeblich)

Pseudo-Tucholsky quote.


"Freiheit stirbt mit Sicherheit" war 1988 der Titel eines Kongresses gegen den Überwachungsstaat  und später der Titel eines Films von Horst Herbst (Link). Dieser Slogan einer unbekannten Autorin wird durch Graffiti und auf Transparenten verbreitet und seit kurzem auch manchmal fälschlich Kurt Tucholsky zugeschrieben (Link).
  
Autor: unbekannt.
Film von Horst Herbst, 1991, Youtube:


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Quellen:
Google
Horst Herbst: "Freiheit stirbt mit Sicherheit". Film, WDR, Köln: 1991 (Link)
Friedhelm Greis: Sudelblog, Angebliche Tucholsky-Zitate

Dienstag, 28. November 2017

"Einen Fehler durch eine Lüge zu verdecken heißt, einen Flecken durch ein Loch zu ersetzen." Aristoteles (angeblich)

Pseudo-Aristotle quote.

Dieser Spruch wird Aristoteles erst im 21. Jahrhundert zugeschrieben. Auf Englisch, Griechisch oder Französisch habe ich ihn sowenig gefunden wie eine Stelle in einem Werk von Aristoteles, die so ähnlich wie das Zitat klingt. Es ist also wahrscheinlich ein Falschzitat.  

Wer es geprägt hat, wissen wir nicht. Es könnte aus Sprichwörtern wie, "Wer seinen Fehler durch eine Lüge entschuldigt, der macht das Uibel noch ärger", entstanden sein (Link).

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Quellen:
Google
Erstmals zugeschrieben 2002:
Universitas, Band 57, Ausgaben 673-678, Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart: 2002, S. 880 (Link)

Montag, 20. November 2017

"... nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch ..." Theodor W. Adorno

Dieses umstrittene, wahrscheinlich meistizitierte, provokative Adorno-Zitat ist das zentrale Element eines Satzes von ingesamt 37 Wörtern, die bei der Interpretation des Zitats mitgedacht gehören.

Theodor W. Adorno:


1949/1951
  • "Noch das  äußerste Bewusstsein vom Verhängnis droht zum Geschwätz zu entarten. Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frisst auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben." 
    Theodor W. Adorno: Kulturkritik und Gesellschaft
1962

  • "Den Satz, nach Auschwitz noch Lyrik zu schreiben, sei barbarisch, möchte ich nicht mildern; negativ ist darin der Impuls ausgesprochen, der die engagierte Dichtung beseelt."
    Theodor W. Adorno: Engagement 

1966
  • "Das perennierende Leiden hat soviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen; darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe sich kein Gedicht mehr schreiben. Nicht falsch aber ist die minder kulturelle Frage, ob nach Auschwitz noch sich leben lasse, ob vollends es dürfe, wer zufällig entrann und rechtens hätte umgebracht werden müssen. Sein Weiterleben bedarf schon der Kälte, des Grundprinzips der bürgerlichen Subjektivität, ohne das Auschwitz nicht möglich gewesen wäre: drastische Schuld des Verschonten. Zur Vergeltung suchen ihn Träume heim wie der, daß er gar nicht mehr lebte, sondern 1944 vergast worden wäre, und seine ganze Existenz danach lediglich in der Einbildung führte, Emanation des irren Wunsches eines vor zwanzig Jahren Umgebrachten."
    Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, Meditationen zur Metaphysik
Über dieses Zitat wurde jahrzehntelang schon viel Falsches und Richtiges geschrieben. Einen kurzen Überblick dazu findet man auf Wikipedia, lesenswert ist auch Burkhardt Lindners Artikel: "Was heißt: Nach Auschwitz? Adornos Datum" (Link).
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Quellen:
Burkhardt Lindner: "Was heißt: Nach Auschwitz? Adornos Datum", in: Stephan Braese ua. (Hg.): Deutsche Nachkriegsliteratur und der Holocaust. Campus Verlag, Frankfurt / New York: 1998, S. 283ff. (Link)
Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, Band  10.1. Hrsg. von Rolf Tiedemann. Suhrkamp, Frankfurt: 1977, S. 30. 
Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. Suhrkamp, Frankfurt: 1973, S. 355
Theodor W. Adorno: Engagement (Vorerst zitiert nach Wikipedia) 
Wikipedia

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Artikel in Arbeit. Zitate noch nicht überprüft.

Donnerstag, 16. November 2017

"Wenn ein Mann über eine Frau nachzudenken beginnt, gehört er ihr schon halb." Marcel Proust (angeblich)


Pseudo-Marcel-Proust quote.
Dieser Spruch wird seit 1974 dem französischen Autor und Regisseur Marcel Pagnol zugeschrieben und erst seit 2007 Marcel Proust unterschoben.

Da das Zitat erst im 21. Jahrhundert Marcel Proust zugeschrieben wurde und da ich es weder auf Französisch noch auf Deutsch oder Englisch in einem digitalisierten Text von oder über Marcel Proust gefunden habe, ist es höchstwahrscheinlich irrtümlich Marcel Proust unterschoben worden. Solche Verwechslungen bei ähnlichen Autorennamen kommen ja öfters vor.

Ein französische Quelle für die Zuschreibung an Marcel Pagnol kenne ich noch nicht.

Varianten:
  • "Wenn ein Mann über eine Frau nachzudenken beginnt, gehört er ihr schon halb."
  • "Wenn ein Mann über eine Frau nachzudenken beginnt, hat sie ihn schon halb gewonnen."
  • "Wenn ein Mann anfängt über eine Frau nachzudenken, dann hat sie gewonnen."
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Quellen:
Eine der ersten Zuschreibungen an Marcel Proust: 2007: (Link)
Google
Erste Zuschreibung an Marcel Pagnol: 1974:
Markus R. Ronner: "Die Treffende Pointe: humoristisch-satirische Geistesblitze des 20. Jahrhunderts nach Stichwörtern alphabetisch geordnet." Ott Verlag, Thun: 1974, S. 216 (Link)

Dienstag, 14. November 2017

„Einen guten Journalisten erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache." Hanns Joachim Friedrichs (angeblich)

Pseudo-Hanns-Joachim-Friedrichs-Zitat.

Das ist ein Falschzitat, weil es eine Aussage des deutschen Fernsehjournalisten Hanns Joachim Friedrichs aus einem SPIEGEL-Gespräch über die notwendige emotionale Distanz eines Fernsehmoderators zu der Nachricht, die er präsentiert, ins Unsinnige verallgemeinert.

Im ursprünglichen Satz geht es um die Notwendigkeit von Fernsehjournalisten, bei schlimmen Nachrichten nicht 'in öffentliche Betroffenheit' zu versinken, 'cool' zu 'bleiben, ohne kalt zu sein'. Nur so würde das Publikum TV-Moderatoren auf Dauer vertrauen.

Diese Aussage wird in entstellter Form als Berufs-Maxime für alle Journalisten verbreitet. Was darauf hinaus läuft, dass ein Journalist, dem zum Beispiel Menschenrechte oder der Rechtsstaat am Herzen liegen, seinen Beruf verfehlt hätte, weil er sich mit dieser Sache nicht gemein machen dürfte. Einige der angesehensten Journalisten der Welt wären nach dieser Definition keine guten Journalisten.

Hanns Joachim Friedrichs, 1995:
  • "SPIEGEL: Hat es Sie gestört, daß man als Nachrichtenmoderator ständig den Tod präsentieren muß?

    FRIEDRICHS: Nee, das hat mich nie gestört. Solche Skrupel sind mir fremd. Also, wer das nicht will, wer die Seele der Welt nicht zeigen will, in welcher Form auch immer, der wird als Journalist zeitlebens seine Schwierigkeiten haben. Aber ich hab' es gemacht, und ich hab' es fast ohne Bewegung gemacht, weil du das anders nämlich gar nicht machen kannst. Das hab' ich in meinen fünf Jahren bei der BBC in London gelernt: Distanz halten, sich nicht gemein machen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten, nicht in öffentliche Betroffenheit versinken, im Umgang mit Katastrophen cool bleiben, ohne kalt zu sein. Nur so schaffst du es, daß die Zuschauer dir vertrauen, dich zu einem Familienmitglied machen, dich jeden Abend einschalten und dir zuhören."
    Der Spiegel, 13/1995, 27. März 1995  (Link)

Aus der Aussage, Zuschauer vertrauen einem Nachrichtenmoderator nur, wenn er Distanz hält und sich vor der Kamera nicht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten, gemein mache, wurde das Motto des jährlich vergebenen Hanns-Joachim-Friedrichs-Preises in folgender Version fabriziert: 
  • "Einen guten Journalisten erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten Sache; dass er überall dabei ist, aber nirgendwo dazugehört."
    Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis  (Link)
Dazu:
  • "Der Witz ist, dass Friedrichs diesen Satz so nie gesagt hat, und auch nie gesagt hätte. Denn es ist ein abgrundtief blöder Satz."
    Robert Misik (Link)
  • "Dieser Satz ziert die Anzeigen, mit denen ein Journalistenpreis ausgeschrieben wird – und er ist trotzdem falsch. Er ist falsch, wenn er so verstanden würde, dass einem Journalisten nichts und niemand angelegen sein soll."
    Heribert Prantl 
    (Link)
  • "Ich halte nichts von der These, man solle sich nicht verbünden. Gerade wir als Journalisten sollen uns interessieren, für die, die sonst nicht gehört werden. Für Menschen, die ausgenutzt und betrogen werden. Für die, die missbraucht und getötet werden. Das ist eine sehr wichtige Aufgabe, die wir erfüllen müssen. Als Anne Will im letzten Jahr diesen Preis gewonnen hat, fand ich es ganz toll, dass sie sich in ihrer Dankesrede von diesem Motto distanziert und einen reflektierten Blick auf diese Aussage geworfen hat."
    Maria von Welser
    (Link)
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Nachtrag, 24. Februar 2018: Klarstellung von Cordt Schnibben:
  • "Ich bin Transporteur dieses Zitats, weil ich damals am Sterbebett von Hanns Joachim Friedrichs diesen Satz gehört und nachgefragt habe. Er hat es eingegrenzt in einem sehr politischen, parteipolitischen Sinne: Also, wenn die SPD das Ehegattensplitting abschafft und ich als Moderator einer öffentl-rechtlichen Newssendung finde es gut, dann darf mir der Zuschauer das nicht anmerken. Daraus zu machen, dass ein Journalist quasi ein haltungsloser, emotionsloser Journalist sein sollte, dem man seine Haltung nicht anmerkt, ist eine Pervertierung. Und HJF gegen eine Solidaritätserklärung für DY zu instrumentalisieren, darauf kann nur kommen, wer nicht weiß, wer er war. Ist übrigens ein dämlicher Fehler von mir, die Konkretisierung dieses Satzes damals im Spiegel nicht abgedruckt zu haben."
    Cordt Schnibben, 23. Februar 2018, Twitter (Link)




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Quellen:
Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis, Webseite (Link) 
Jürgen Leinemann, Cordt Schnibben: "Cool bleiben, nicht kalt. Der Fernsehmoderator Hanns Joachim Friedrichs über sein Journalistenleben." Interview, Der Spiegel 13/1995, 27. März 1995 (Link)
Robert Misik: "Lob der Parteilichkeit", 2016 (Link)
Heribert Prantl: "Die Welt als Leitartikel: Zur Zukunft des Journalismus." Picus Verlag, Wien: 2012, ebook (Link) 
Steffen Burkhardt: "Praktischer Journalismus." Oldenbourg Verlag, München: 2009, Interview mit Maria von Welser, S. 99 (Link)  
Cordt Schnibben, 23. Februar 2018, Twitter (Link)
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Letzte Änderung: 24. Februar 2018