Sonntag, 9. Juli 2017

"Deutsche – kauft deutsche Bananen!" Kurt Tucholsky (angeblich)

Bei Kurt Tucholsky heißt es:
  • "Deutsche, kauft deutsche Zitronen!"
    Kurt Tucholsky: "Europa", Die Weltbühne, 12. Januar 1932, S. 73 

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Quelle:
Friedhelm Greis: Sudelblog, Angebliche Tucholsky-Zitate


"Der Horizont des Berliners ist längst nicht so groß wie seine Stadt." Kurt Tucholsky (angeblich)

Dieses angebliche Tucholsky-Zitat hat noch niemand in Kurt Tucholskys Schriften gefunden. Es ist eine Erfindung des 21. Jahrhunderts. (Google books)

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Quellen:
Google books
Friedhelm Greis: Sudelblog, Angebliche Tucholsky-Zitate

Samstag, 1. Juli 2017

"Niemand hat das Recht zu gehorchen." Hannah Arendt (angeblich)

Entstelltes Hannah-Arendt-Zitat.
Dieses entstellte Zitat stammt aus einem Radio-Gespräch Hannah Arendts mit Joachim Fest aus dem Jahr 1964 und ist ein Falschzitat, weil ein entscheidendes Wort fehlt.

In dem Interview geht es unter anderem um die Dummheit des sonst intelligenten Adolf Eichmann, wenn er behauptet, er habe sein Leben lang die Moralvorschriften Immanuel Kants befolgt, Kants Pflichtbegriff zu seiner  Richtschnur gemacht und aus Pflicht den Befehlen seiner Vorgesetzten gehorcht.

Nun kann sich ein Schreibtischmassenmörder nicht auf den kategorischen Imperativ berufen, ohne sich oder andere anzulügen. Zu glauben, mit so einer Rechtfertigung durchzukommen, ist ein Zeichen von Dummheit. Hannah Arendt erklärt kurz, warum Eichmanns Berufung auf Kant lächerlich ist, warum es mit Hilfe von Kant unmöglich ist, sein Gewissen und seine Verantwortung bei einem Vorgesetzten auszulagern und sagt in diesem Zusammenhang: "Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen bei Kant."

Der Satz ist in diesem Kontext verständlich und richtig, in seiner Verkürzung und Verallgemeinerung aber unsinnig und zu einem Slogan verkommen, den man sowenig ernst nehmen kann wie einen Werbespruch. Selbstverständlich habe ich zum Beispiel das Recht, einem Polizisten zu gehorchen, wenn er mir sagt, ich solle nicht bei Rot über die Kreuzung gehen.

Leider ist das unsinnig entstellte Zitat Hannah Arendts viel bekannter als der Gedanke, der ursprünglich dahinter steckt, und mit diesem Spruch werden auch Denkmäler und Park-Bänke geschmückt. Zum Beispiel wurde 2014 für den Hannah-Arendt-Park in Wien angekündigt, das Falschzitat werde "im Park-Eingangsbereich an der Maria-Tusch-Straße in den Sockel einer Sitzbank eingegossen werden". (Link)

Das Deutsche Historische Museum bewirbt im Jahr 2020 seine Hannah-Arendt-Ausstellung mit diesem Falschzitat auf Deutsch und auf Englisch ("No one has the right to obey". )


5. November 2017:
  • "Nach jahrelangem Tauziehen ist heute am Gebäude des Finanzamtes in der Südtiroler Hauptstadt Bozen eine Installation am Mussolini-Relief enthüllt worden, die das faschistische Relikt in seinen geschichtlichen Kontext rücken soll. Am Abend leuchtete das Zitat von Hannah Arendt, 'Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen', dann erstmals auch."
    ORF.at, 5. November 2017
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Joachim Fest, Radio-Gespräch, 1964: 

  • "Sie haben vorhin den Namen Kant erwähnt, und Eichmann selbst hat sich ja nun in dem Prozess gelegentlich auf Kant berufen. Er habe gesagt, er sei sein Leben lang den Moralvorschriften Kants gefolgt und habe vor allem den Kantischen Pflichtbegriff zu seiner Richtschnur gemacht." 

 

Hannah Arendt, 16.20:

 

Hannah Arendt, 1964:

  •  "Ja. Natürlich eine Unverschämtheit, nicht? Von Herrn Eichmann. Kants ganze Moral läuft doch darauf hinaus, dass jeder Mensch bei jeder Handlung sich selbst überlegen muss, ob die Maxime seines Handelns zum allgemeinen Gesetz werden kann. … Es ist ja gerade sozusagen das extrem Umgekehrte des Gehorsams! Jeder ist Gesetzgeber. Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen bei Kant
  • Eichmann war ganz intelligent, aber diese Dummheit hatte er. Das war die Dummheit, die so empörend war. Und das habe ich eigentlich gemeint mit der Banalität. Da ist keine Tiefe – das ist nicht dämonisch! Das ist einfach der Unwille, sich je vorzustellen, was eigentlich mit dem anderen ist ...
  • Das heißt, dieses Unvermögen, wie Kant sagt, um ihn jetzt also doch wirklich in den Mund zu nehmen: "an der Stelle jedes andern denken" – ja, das Unvermögen ... Diese Art von Dummheit, dass es ist, als ob man gegen eine Wand spricht. Man kriegt nie eine Reaktion, weil nämlich auf einen selber gar nicht eingegangen wird. Das ist deutsch. Das zweite, was mir spezifisch deutsch scheint, ist diese geradezu verrückte Idealisierung des Gehorsams."
    Hannah Arendt im Gespräch mit Joachim Fest, 1964.

    Zitiert nach: "Eine Rundfunksendung aus dem Jahr 1964."  Herausgegeben von Ursula Ludz und Thomas Wild. (Link) (Allerdings habe ich hier die Version: "Kein Mensch hat bei Kant das Recht zu gehorchen" nach dem Original korrigiert.)

Immanuel Kant, 1793: 

 

  • "Der Satz 'man muß Gott mehr gehorchen, als den Menschen' bedeutet nur, daß, wenn die letzten etwas gebieten, was an sich böse (dem Sittengesetz unmittelbar zuwider) ist, ihnen nicht gehorcht werden darf und soll."

    Immanuel Kant: "Die Religion innerhalb der Grenzen  der bloßen Vernunft." 1793, AA VI, S. 99 (Link)
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Twitter:




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Quellen:
Google Statistik: "Ungefähr 16 600 Ergebnisse" (Das Falschzitat ist also millionenfach verbreitet.)
Hannah Arendt, Joachim Fest: "Eichmann war von empörender Dummheit. Gespräche und Briefe." Piper Verlag, München: 2011 (Der fragliche Satz mit dem nachgestellten "bei Kant" wurde  redigiert zu: "Kein Mensch hat bei Kant das Recht zu gehorchen." Ich halte diese Umstellung für vertretbar.)
Hannah Arendt im Gespräch mit Joachim Fest, 1964.  "Eine Rundfunksendung aus dem Jahr 1964."  Herausgegeben von Ursula Ludz und Thomas Wild. (Link)
"Der rätselhafte Satz." Ein Gespräch mit Andreas Oberprantacher über das falsche Hannah-Arendt-Zitat auf einem Mussolini-Relief. "Die Neue Südtiroler Tageszeitung Online", 5. Februar 2017  (Link)
Stadtteilmanagement Seestadt aspern: "Niemand hat das Recht zu gehorchen." 2014 (Link)
Immanuel Kant: "Die Religion innerhalb der Grenzen  der bloßen Vernunft." 1793, Akademieausgabe von Immanuel Kants Gesammelten Werken (AA), Elektronische Edition, Band VI, S. 99 (Link)

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Ich danke Lisi Moosmann und Michael Mayer für ihre Hinweise.

Letzte Änderung: 22/6 2020.


"Der Friede muß gestiftet werden, er kommt nicht von selber." Immanuel Kant (angeblich)

Dieses Zitat, das in den digitalisierten Medien erst im 21. Jahrhundert auftaucht, ist zwar in diesem Wortlaut nicht von Immanuel Kant, aber immerhin paraphrasiert es einen wichtigen Gedanken von Kant aus seiner immer noch lesenswerten Schrift "Zum ewigen Frieden".

Immanuel Kant, 1795:

 

  •  "Der Friedenszustand unter Menschen, die neben einander leben, ist kein Naturstand (status naturalis), der vielmehr ein Zustand des Krieges ist, d.i. wenn gleich nicht immer ein Ausbruch der Feindseligkeiten, doch immerwährende Bedrohung mit denselben. Er muß also gestiftet werden; denn die Unterlassung der letzteren ist noch nicht Sicherheit dafür, und, ohne daß sie einem Nachbar von dem andern geleistet wird (welches aber nur in einem gesetzlichen Zustande geschehen kann), kann jener diesen, welchen er dazu aufgefordert hat, als einen Feind behandeln."
    Immanuel Kant: "Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf." 1795
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Quellen:
Immanuel Kant: "Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf." (1795) In: Werke in zwölf Bänden, Band 11, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main: 1977, S. 203.
Zeno.org
Projekt Gutenberg 
Weihnachtsgruß der Stadt Heidelberg, 2002 (Link)
(Link)
(Link)

Freitag, 30. Juni 2017

"Eine Nation kann ihre Narren überleben – und sogar ihre ehrgeizigsten Bürger. Aber sie kann nicht den Verrat von innen überleben." Cicero (angeblich)

Dieses Pseudo-Cicero-Zitat stammt aus dem 1965 erschienenen historischen Roman über Cicero: "A Pillar of Iron: A Novel of Ancient Rome" von Taylor Caldwell. (Link)

Die Autorin vermischt in dieser Romanbiographie Cicero-Zitate mit erfundenen Zitaten, wie das bei einem anderen Pseudo-Cicero-Zitat aus diesem Buch schon analysiert wurde; der Satz: "The budget should be balanced, the treasury should be refilled, public debt should be reduced ...", wird heute auch sehr oft irrtümlich Cicero und nicht der Autorin zugeschrieben, wie man hier Snopes.com und hier Quoteinvestigator.com nachlesen kann.

Unser Zitat, "A nation can survive its fools, and even the ambitious. But it cannot survive treason from within", wird auch durch einen Text mit dem Titel "Cicero's Prognosis" verbreitet, der einem amerikanischen Höchstrichter und Gouverneur von Florida mit dem Namen M. F.  Caldwell zugeschrieben wird, also einem Mann, dessen Nachnamen mit dem der Autorin Taylor Caldwell identisch ist.

"THE HONORABLE MILLARD F. CALDWELL Justice - Supreme Court Tallahassee, Florida" (Link) soll diesen Vortrag im Oktober jenes Jahres gehalten haben, in dem der Roman, aus dem unser Zitat stammt, erschienen ist. - Ich nehme an, die Zuschreibung an diesen Richter ist ein Irrtum. In der Datenbank der U.S. National Library of Medicine wird der Text "Cicero's Prognosis" einer Person mit dem Namen "Caldwell MF" (ohne genauere Daten über die Autorin) zugeordnet. (Link)

Wie auch immer: Auch Autorinnen und Autoren von Wikiquote haben unser Zitat in keinem Werk Ciceros gefunden, aber sie schreiben es dem Herrn, nicht der Frau Caldwell zu (Link) und konstatieren zurecht eine entfernte Ähnlichkeit einer Passage des Zitats mit einer Stelle in Ciceros 2. Catilinarischen Rede.

 Pseudo-Cicero, 1965:
  •  "Eine Nation kann ihre Narren überleben – und sogar ihre ehrgeizigsten Bürger. Aber sie kann nicht den Verrat von innen überleben. Ein Feind vor den Toren ist weniger gefährlich, denn er ist bekannt und trägt seine Fahnen für jedermann sichtbar. Aber der Verräter bewegt sich frei innerhalb der Stadtmauern, sein hinterhältiges Flüstern raschelt durch alle Gassen und wird selbst in den Hallen der Regierung vernommen. Denn der Verräter tritt nicht als solcher in Escheinung: Er spricht in vertrauter Sprache, er hat ein vertrautes Gesicht, er benutzt vertraute Argumente, und er appelliert an die Gemeinheit, die tief verborgenen in den Herzen aller Menschen ruht. Er arbeitet darauf hin, dass die Seele einer Nation verfault. Er treibt sein Unwesen des Nächtens – heimlich und anonym – bis die Säulen der Nation untergraben sind. Er infiziert den politischen Körper der Nation dergestalt, bis dieser seine Abwehrkräfte verloren hat. Fürchtet nicht so sehr den Mörder. Fürchtet den Verräter. Er ist die wahre Pest!” – 
  • "A nation can survive its fools, and even the ambitious. But it cannot survive treason from within. An enemy at the gates is less formidable, for he is known and carries his banner openly. But the traitor moves amongst those within the gate freely, his sly whispers rustling through all the alleys, heard in the very halls of government itself. For the traitor appears not a traitor; he speaks in accents familiar to his victims, and he wears their face and their arguments, he appeals to the baseness that lies deep in the hearts of all men. He rots the soul of a nation, he works secretly and unknown in the night to undermine the pillars of the city, he infects the body politic so that it can no longer resist. A murderer is less to be feared. The traitor is the carrier of the plague. You have unbarred the gates of Rome to him."
    Taylor Caldwell, 1965 (Fast zeichengetreue Wiedergabe aus dem Roman: "A Pillar of Iron: A Novel of Ancient Rome"; zitiert nach "Cicero's prognosis" (Link) .)

 Auszug aus Ciceros 2. Catilinarischer Rede vom 9. November 63 v. Chr.:
  • "Nulla enim est natio, quam pertimescamus, nullus rex, qui bellum populo Romano facere possit. Omnia sunt externa unius virtute terra marique pacata: domesticum bellum manet, intus insidiae sunt, intus inclusum periculum est, intus est hostis. Cum luxuria nobis, cum amentia, cum scelere certandum est. Huic ego me bello ducem profiteor, Quirites; suscipio inimicitias hominum perditorum; quae sanari poterunt, quacumque ratione sanabo, quae resecanda erunt, non patiar ad perniciem civitatis manere. Proinde aut exeant aut quiescant aut, si et in urbe et in eadem mente permanent, ea, quae merentur, exspectent."
  • "Denn es gibt keine Nation, die wir zu fürchten hätten, keinen König, der mit dem Römervolk Krieg zu führen vermöchte. Alle auswärtigen Verhältnisse sind durch eines Mannes (Pompeius) Tapferkeit zu Land und Meer friedlich geworden. Nur ein innerer Krieg ist noch vorhanden, im Inneren bestehen Nachstellungen, im Innern hat die Gefahr sich festgesetzt, im Innern ist der Feind. Mit der Üppigkeit, mit dem Wahnsinn, mit dem Verbrechen haben wir zu kämpfen. Für diesen Krieg, Quiriten, erkläre ich mich zum Anführer; ich nehme die Feindschaft dieser schlechten Menschen auf mich. Was noch zu heilen ist, will ich, so gut ich kann, heilen. Was ausgeschnitten werden muss, werde ich nicht zum Verderben des Staates weiter um sich greifen lassen. Daher sollen jene entweder sich fortbegeben oder sich ruhig verhalten oder, wenn sie in der Stadt und bei ihrer Gesinnung bleiben, das Los erwarten, das sie verdienen."
    Marcus Tullius Cicero: "In Catilinam II" 2. Catilinarische Rede, 63 AD, Übersetzung nach C.N.v.Osiander, Gottwein.de (Link)
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Quellen:
Taylor Caldwell: "A Pillar of Iron: A Novel of Ancient Rome", 1965. (Eine Ausgabe von 1965 hatte ich noch nicht in der Hand.) Google Books: (Link)
Millard F. Caldwell (Probably falsely attributed): "Cicero's Prognosis." Association of American Physicians and Surgeons, Inc. A Voice for Private Physicians, Florida: (1965) 1996 (Link) 
Marcus Tullius Cicero: "In Catilinam II" 2. Catilinarische Rede, 63 AD, Übersetzung nach C.N.v.Osiander, Gottwein.de (Link)  
U.S. National Library of Medicine (Link)
Quoteinvestigator.com
Wikiquote
de.wikiquote
Snopes.com
1963: (Link)

"Keine Schuld ist dringender, als die, Dank zu sagen." Cicero (angeblich)

Ungenaue Übersetzung eines Cicero-Zitats.
Diese Maxime stammt so ähnlich aus Ciceros Schrift "De officiis" / "Vom pflichtgemäßen Handeln", dem wahrscheinlich immer noch beliebtesten und meistübersetzten Werk Ciceros.

Cicero, De officiis, Liber 1, 47:

  • "nullum enim officium referenda gratia magis necessarium est".
    (Link)
  •  "es gibt nämlich keine wichtigere Verpflichtung, als Dankbarkeit zu zeigen".
    Übersetzt von
    Rainer Nickel (Link)
  • "Denn keine Pflicht ist unausweichlicher als die, Dank abzustatten."
    Übersetzt von Karl Büchner (Link)
  • "There is no duty more obligatory than the repayment of kindness."
    (Link) 

Ich dachte zuerst, der Spruch "Keine Schuld ist dringender ..." habe mit Cicero gar nichts zu tun,  wurde aber von Aphorismen.de darauf aufmerksam gemacht, dass der Spruch eine Maxime Ciceros paraphrasiert.

Es scheint Dutzende Übersetzungsvarianten dieses Satzes zu geben.


Artikel in Arbeit.

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Quellen:
Cicero: Vom pflichtgemäßen Handeln / De officiis: Lateinisch - Deutsch, herausgegeben und übersetzt von Rainer Nickel, Reihe Tusculum, Patmos Verlag, Artemis und Winkler, Düsseldorf: 2008; S. 44f. (Link)
Cicero: De officiis wikisource.org


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Ich danke aphorismen_de für den Hinweis auf meinen Irrtum.

Korrigierte Fassung 25/09 2019

Mittwoch, 28. Juni 2017

"'Die Juden sind an allem Schuld', meinte einer. 'Und die Radfahrer' ... sagte ich. 'Wieso denn die Radfahrer?', antwortete er verdutzt. 'Wieso die Juden?', fragte ich zurück." Kurt Tucholsky (angeblich)

Pseudo-Kurt-Tucholsky-Zitat.
Das ist eines von den etwa zwei Dutzend populären Tucholsky-Zitaten, die - nach Recherchen von Friedhelm Greis und der Kurt Tucholsky-Gesellschaft - in keinem Werk Tucholskys zu finden sind. 
Er kannte diesen Witz, aber er stammt nicht von ihm, auch wenn er ihm heute oft in diversen Zitatsammlungen irrtümlich zugeschrieben wird.

Der Witz war - wie auch Hannah Arendt erzählt - in der Weimarer Republik verbreitet und vielleicht wurde er 1923 von Theodor Lessing in seiner Satire "Feind im Land?" geprägt.

Auf der ganzen Welt bekannt wurde der Dialog durch Hannah Arendt und durch den Film "Ship of Fools" ("Das Narrenschiff"), in dem Heinz Rühmann als Julius Löwenthal die Gegenfrage stellt.


Eine frühe Version der scherzhaften Klage über Juden und Radfahrer findet man in dem 1912 erschienem Roman "Morgenrot" von Otto Stoessl:
  • "Und weil zu dieser Zeit auch das Zweirad aufkam, dessen Sportwildlinge viel Unheil anrichteten, pflegte Dieter das ganze Elend der Welt in dem Spruch zusammenzufassen: die Juden und die Radfahrer sind an allem schuld."
    Otto Stoessl: "Morgenrot", Projekt Gutenberg: 2017 (Link), Erstausgabe 1912: (Link)

Die Wendung "XY sind an allem schuld" ist seit Mitte des 18. Jahrhunderts nachweisbar. Zwischen 1845 und 1871 werden in österreichischen Zeitungen folgende Gruppen - nicht immer völlig ernst - als "an allem schuld" bezeichnet:
  • die Pfaffen, die Österreicher, die Preußen,  die Jesuiten, die Journalisten (1871), die Engländer (1858), die verfluchten Schneider, die Zeitungen, die Gerichte und die Ärzte. (Link)
Von 1871 bis 1899 wird dann diese Floskel in Österreich hauptsächlich gegen Juden, selten gegen Freimaurer, Fremde, Sozialdemokraten, Clericale oder Antisemiten verwendet; "die Juden sind an allem schuld!", wird sogar im österreichischen Parlament von christlich-sozialen Abgeordneten geschrien.  (Link)
 


  1923, zehn Jahre bevor Theodor Lessing in seinem Exil in der Tschechoslowakei von Nazis ermordet wird, schreibt dieser meistgehasste Autor und Philosoph der Weimarer Republik in einer politischen Satire:
  • "Ja, ich sage es Ihnen frei heraus: Hier steht auf der einen Seite der unverantwortliche Geist der Zersetzung, auf der andern Seite die gesunde organische Evolution Europas. Wenn ich aber vaterlandsfeindliche Zurufe, die mir im Ohre gellen, auf ihre Herkunft prüfe, so kann ich mir nicht ganz verhehlen, daß einen guten Teil der Schuld an einem Siege der destruktiven Tendenzen auch die Freimaurer und Juden tragen ...« »Und die Radfahrer«, schrie Mannheimer aus seiner Ecke.
    »Wieso grade die Radfahrer?« fragte Tünnes etwas stutzig werdend.
    »Wieso grade die Juden?« erwiderte Mannheimer."
    Theodor Lessing: "Feind im Land. Satiren und Novellen. "(EA 1923), Hofenberg, Berlin: 2017 (Link) 
      
1925 kommt meines Wissens dieser Witz  erstmals in einer Zeitung (ohne Hinweis auf Theodor Lessing (Link)) vor, und Kurt Tucholsky spielt 1928 in folgenden Versen auf die Worte von "den Juden und den Radfahrern" an:

  • "Hast du Angst, Erich? Bist du bange, Erich?
    Klopft dein Herz, Erich? Läufst du weg?
    Wolln die Maurer, Erich – und die Jesuiten, Erich,
    dich erdolchen, Erich – welch ein Schreck!
        Diese Juden werden immer rüder.
        Alles Unheil ist das Werk der . ·.  . ·.  Brüder.
Denn die Jesuiten, Erich – und die Maurer, Erich –
und die Radfahrer – die sind schuld
an der Marne, Erich – und am Dolchstoß, Erich –
ohne die gäbs keinen Welttumult.
     ..."
Kurt Tucholsky: "Ludendorff oder Der Verfolgungswahn" von Theobald Tiger, "Die Weltbühne", 6. November 1928, Nr. 45, S. 700 (Link)

Für Hannah Arendt ist dieses Witzwort die "beste Widerlegung" der antisemitischen Wahnidee, die Juden stünden versteckter Weise hinter allen Übeln der Welt:
  • "Die beste Illustrierung und zugleich die beste Widerlegung dieser Theorie ist in einem Witz enthalten, der in den zwanziger Jahren häufig erzählt wurde: Ein Antisemit behauptet, die Juden seien am Kriege schuld; die Antwort lautet: Ja, die Juden und die Radfahrer. Warum die Radfahrer? fragt der eine; warum die Juden? fragt der andere."
    Hannah Arendt: "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft." (1955) Ullstein, Berlin: 1975, S. 23 (Link)

  • "The best illustration – and the best refutation – of this explanation, dear to the hearts of many liberals, is in a joke which was told after the first World War. An anti-Semite claimed that the Jews had caused the war; the reply was: Yes, the Jews and the bicyclists. Why the bicyclists? asks the one. Why the Jews? asks the other. "
    Hannah Arendt: "The Origins of Totalitarianism." (EA1951) Penguin Books Classics: 2017 (Link)

Einige weitere, manchmal sehr viel schwächere, Varianten des Dialogs:
1956
  • "»Dadurch haben wir den Krieg verloren. Durch die Schlamperei der Intellektuellen und durch die Juden.« »Und die Radfahrer«, ergänzt Riesenfeld. »Wieso die Radfahrer?« fragt Heinrich erstaunt. »Wieso die Juden?« fragt Riesenfeld zurück."
    Erich Maria Remarque: "Der schwarze Obelisk: Geschichte einer verspäteten Jugend." Kiepenheuer u. Witsch,  Köln: 1956, S. 293 (Link)
1965



  •  "Rieber: Lowenthal, you know it is a historical fact that the Jews are the basis of our misfortunes.  Lowenthal: Of course.  Rieber: You agree?  Lowenthal: Of course. The Jews and the bicycle riders.  Rieber: The bicycle riders? Why the bicycle riders?  Lowenthal: Why the Jews?"
    "Ship of Fools", 1965, zitiert nach Imdb.com
  • "'Die Juden sind an allem schuld.' Rühmann repliziert: 'Genau, die Juden und die Radfahrer.' 'Wieso die Radfahrer?', fragt der Deutsche. Rühmann entgegnet: 'Wieso die Juden?'."
    Das Narrenschiff, 1965 (Link) (Den genauen Wortlaut muss ich erst recherchieren.)

  • "Ferrer: 'Die Juden sind an allem Schuld.' Rühmann: 'Stimmt, die Juden und die Radfahrer.' Ferrer: 'Wieso die Radfahrer?' Rühmann: 'Wieso die Juden?'"
    Das Narrenschiff, 1965 (Link)
 1999
  • "Treffen einander zwei Wiener auf der Straße und jammern über die schrecklichen Entbehrungen, die ihnen der Krieg verursacht hat. Schließlich sagt der eine. 'Und weißt Du, wer schuld ist an dem Krieg? Die Juden und die Radfahrer!' Gegenfrage: 'Wieso die Radfahrer?!'"
    Albert Lichtblau (Hrsg.): "Als hätten wir dazugehört: österreichisch-jüdische Lebensgeschichten aus der Habsburgermonarchie." Böhlau, Wien: 1999 (Link)
 2010
  • "Ein älterer Jude aus Berlin findet sich von Nazis umringt, die ihn zu Boden schlagen und höhnisch fragen: 'Na Jude, wer ist denn schuld am Krieg?' Der kleine Jude ist nicht auf den Kopf gefallen und antwortet: 'Die Juden und die Radfahrer.' 'Warum die Radfahrer?', wollen die Nazis wissen. 'Warum die Juden?', kontert der alte Mann."
    Avi Primor, Christiane von Korff: "An allem sind die Juden und die Radfahrer schuld", Piper Verlag, München: 2010, S. 9 (Link) 
 2014
  • "One of the conclusions to be drawn from this is that,  in endeavoring to provide an answer to the question "Why  were Jews specifically picked out to play the scapegoat role  in anti-Semitic ideology?" we might easily succumb to the  very trap of anti-Semitism, looking for some mysterious  feature in them that, as it were, predestined them for that  role: the fact that Jews who were chosen for the role of the  'Jew' ultimately is contingent — as it is pointed out by the  joke about anti-Semitism: 'Jews and cyclists are responsible for all our troubles. — Why cyclists? — WHY JEWS?'"
     Slavoj
    Žižek: "Žižek's Jokes: (Did you hear the one about Hegel and negation?)"  Ed. by Audun Mortensen, MIT Press, Boston: 2014, S. 117 (Link) 
  • "'Die Juden und die Radfahrer sind für unsere ganzen Schwierigkeiten verantwortlich!' 'Warum die Radfahrer?' 'Warum die Juden?'"
    Slavoj Žižek: "Žižek's Jokes - Treffen sich zwei Hegelianer ..." Übers: Franz Born, Suhrkamp, Berlin: 2014 (Link)
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Quellen:
Gutezitate.com  (Die Sammlung einer Unmenge falsch zugeschriebener Zitate und Memes.)
Stefan Ille, Kurt Tucholsky-Gesellschaft: "Juden und Radfahrer – Ein angebliches Tucholsky-Zitat." (Mit einem Nachtrag von Friedhelm Greis, dem ich auch das Tucholsky-Zitat verdanke.) (Link)
Historische Zeitungen und Zeitschrifen der Österreichischen Nationalbibliothek, Anno Volltextsuche (Link)
Google Books, Projekt Gutenberg etc.
Otto Stoessl: "Morgenrot", Projekt Gutenberg: 2017 (Link), Erstausgabe 1912: (Link)
Theodor Lessing: "Feind im Land. Satiren und Novellen. "(EA 1923), Hofenberg, Berlin: 2017 (Link) 
Kurt Tucholsky: "Ludendorff oder Der Verfolgungswahn" von Theobald Tiger (Psd.), "Die Weltbühne", XXIV Jg., Nr. 45, 6. November 1928, S. 700 (Letzte Zeile: "Alles Unheil ist das Werk der Heeresbrüder.") (Link)
Hannah Arendt: "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft." (1955) Ullstein, Berlin: 1975, S. 23 (Link)
Hannah Arendt: "The Origins of Totalitarianism." (EA1951) Penguin Books Classics: 2017 (Link)  
Slavoj Žižek: "Žižek's Jokes - Treffen sich zwei Hegelianer ..." Übers: Franz Born, Suhrkamp, Berlin: 2014 (Link)
 Slavoj Žižek: "Žižek's Jokes: (Did you hear the one about Hegel and negation?)"  Ed. by Audun Mortensen, MIT Press, Boston: 2014, S. 117 (Link)
Avi Primor, Christiane von Korff: "An allem sind die Juden und die Radfahrer schuld", Piper Verlag, München: 2010, S. 9 (Link)  
Albert Lichtblau (Hrsg.): "Als hätten wir dazugehört: österreichisch-jüdische Lebensgeschichten aus der Habsburgermonarchie." Böhlau, Wien: 1999 (Link)
Erich Maria Remarque: "Der schwarze Obelisk: Geschichte einer verspäteten Jugend." Kiepenheuer u. Witsch,  Köln: 1956, S. 293 (Link)
"Das Vaterland." Abendblatt, 27. November 1897, S. 1 Parlament (Link) 
"Arbeiterwille", 27. Juni 1925, S. 3 1925: "Die Juden und die Radfahrer."
Walter Ludwig: "Soziologie des deutschen Stammtisches. Die Entstehung politischer Schlagworte." "Salzburger Wacht", 30. Januar 1932, S. 7: "'Die Juden und die Radfahrer' sind an allem schuld. Besser als mit diesem Witzwort, kann man die Mentalität eines Stammtisches nicht beschreiben." (Link)  


Letzte Änderung: 22/10 2019

Sonntag, 25. Juni 2017

"In Zeiten universeller Täuschung ist das Aussprechen von Wahrheit ein revolutionärer Akt.“ George Orwell (angeblich)

Pseudo-George-Orwell-Zitat.

Pseudo-George-Orwell-Zitat.
Wie jedes Jahr wurde auch 2017 wieder dem Autor von "1984", der leidenschaftlich für sorgfältigen und wahrheitsgetreuen Journalismus warb, mit fälschlich ihm zugeschriebenen Zitaten zum Geburtstag gratuliert.

32 Jahre nach seinem Tod wird George Orwell dieses Wahrheits-Zitat erstmals unterschoben, fand Garson O'Toole, der Autor der sorgfältig gemachten Webseite Quote Investigator, heraus. Seitdem haben es schon Viele in Orwells Schriften gesucht, aber noch niemand hat es gefunden.

Es ist also nicht wahr, dass Orwell gesagt hat, das Aussprechen der Wahrheit sei ein revolutionärer Akt, auch wenn dieses Zitat unter seinem Namen auf der ganzen Welt verbreitet wird.

Dieses Zitat geht auf Ferdinand Lassalle, Rosa Luxemburg, Heinrich Mann und Antonio Gramsci zurück.  


Pseudo-Orwell-Zitat:

  • "In Zeiten, da Täuschung und Lüge allgegenwärtig sind, ist das Aussprechen der Wahrheit ein revolutionärer Akt."
  • "In Zeiten globalen Betrugs gilt es als revolutionäre Tat, wenn man die Wahrheit sagt." 
  • "In Zeiten universeller Täuschung ist das Aussprechen von Wahrheit ein revolutionärer Akt."
  • "In einer Zeit des Universalbetrugs ist die Wahrheit zu sagen eine revolutionäre Tat."
  • "In a time of universal deceit — telling the truth is a revolutionary act."
  • "During times of universal deceit, telling the truth becomes a revolutionary act."
  • "Speaking the truth in times of universal deceit is a revolutionary act."

Dass das Aussprechen der Wahrheit eine revolutionäre Tat oder ein revolutionärer Akt ist, haben Rosa Luxemburg, Heinrich Mann und Antonio Gramcsi geschrieben, aber nicht George Orwell.

Ferdinand Lassalle, Rosa Luxemburg und Antonio Gramsci

Die Erkenntnis, dass das Aussprechen der Wahrheit, also "dessen, was ist", jeder erfolgreichen Politik vorausgehen muss, geht auf den Gründer der deutschen Sozialdemokratie, Ferdinand Lassalle, zurück.

Rosa Luxemburg erinnert 1906 daran:
  • "Wie Lassalle sagte, ist und bleibt die revolutionärste Tat, immer 'das laut zu sagen, was ist'. "
    Rosa Luxemburg, 1906 (Link)

1813, Fichte
  • "Bonaparte, der es liebt, auszusprechen, was ist, hat es gethan, und würde fortgefahren haben, es zu thun."
    Johann Gottlieb Fichte: "Politische Fragmente", 1813 (Link)
1862, Lassalle
  • "Dies ist die Macht des Aussprechens dessen, was ist. Es ist das gewaltigste politische Mittel! Fichte constatirt in seinen Werken, daß »das Aussprechen dessen, was ist,« ein Lieblingsmittel des alten Napoleon gewesen, und in der That hat er ihm einen großen Theil seiner Erfolge verdankt. Alle große politische Action besteht in dem Aussprechen dessen, was ist, und beginnt damit. Alle politische Kleingeisterei besteht in dem Verschweigen und Bemänteln dessen, was ist."
    Ferdinand Lassalle: "Was nun?" Zweiter Vortrag über Verfassungswesen.  (1862) Meyer u. Zeller, Zürich: 1863, S. 35 (Link)
 1906, Luxemburg
"Wie Lassalle sagte, ist und bleibt die revolutionärste Tat, immer »das laut zu sagen, was ist«."
Rosa Luxemburg: "In revolutionärer Stunde: Was weiter?" (1906) (Link); polnische Erstausgabe: "Z doby rewolucyjnej: Co dalej?" (Link)
1919 , Gramsci

  • "To tell the truth, to arrive together at the truth, is a communist and revolutionary act."
    Antonio Gramsci und Palmiro Togliatti,  L’Ordine Nuovo, 21 June 1919, Vol. 1, No. 7.
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Karl Georg von Raumer


1819
  • "Jede keimende Wahrheit ist revolutionär gegen den entgegenstehenden herrschenden Irrthum, jede keimende Tugend revolutionär gegen das im Schwange gehende, ihr widersprechende Laster."
    Karl Georg von Raumer: "Das Turnen und der Staat. Georg, Otto" in: "Vermischte Schriften." G. Reimer, Berlin: 1819, S. 102 (Link)
     
 

Heinrich Mann

1915
  • "So tat er den nächsten, - und der war revolutionär, das Aussprechen der Wahrheit, die viele kannten und die niemand zu nennen wagte, das Aussprechen mit aller Gefahr für ihn selbst und für das Land. Das Blatt hieß L'Aurore ..."
    Heinrich Mann: "
    Émile Zola" (1915), Insel Verlag, Frankfurt am Main: 1962 (Link)

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Quellen:
Johann Gottlieb Fichte: Politische Fragmente, B. "Aus dem Entwurfe einer politischen Schrift aus dem Jahre 1813", in: Johann Gottlieb Fichte's sämmtliche Werke. Band 7 Dritte Abteilung. Populärphilosophische Schriften. 2. Band: Zur Politik, Moral und Philosophie der Geschichte. Herausgegeben von J. H. Fichte, Verlag von Veith und Comp., Berlin: 1846, S. 571 (Link)
Rosa Luxemburg: "Z doby rewolucyjnej: Co dalej?", Wydawnictwo "Czerwonego Sztandaru", 1905 (Link)
Rosa Luxemburg: "In revolutionärer Stunde: Was weiter?", Übersetzung: Hildegard Bamberger, Elisabeth Piwka, Dr. R. Jeske, Gesammelte Werke. 1906 bis Juni 1911. Band 2, Dietz, Berlin: 1972, S. 38  (Link)
Ferdinand Lassale: "Was nun?" Zweiter Vortrag über Verfassungswesen. Meyer & Zeller,  Zürich: 1863, S. 35 (Link); Ferdinand Lassalle hielt diesen Vortrag erstmals am 17. November 1862 im Mundtschen Saal in der Köpenickerstraße 100 in Berlin-Kreuzberg (Link),
Garson O'Toole (Quote Investigator): "In a Time of Universal Deceit — Telling the Truth Is a Revolutionary Act. George Orwell? V. G. Venturini? David Hoffman? Charlotte Despard? Antonio Gramsci? Anonymous? Apocryphal?" 2013 (Link)
Wikiquote Talk (Mit Hinweis auf Raumer.)
Karl Georg von Raumer: "Das Turnen und der Staat. Georg, Otto" in: "Vermischte Schriften." G. Reimer, Berlin: 1819, S. 102 (Google Books) 
Heinrich Mann: "Émile Zola" (1915), Insel Verlag, Frankfurt am Main: 1962 (Link)
 Wikiquote
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Dank: 
Ich danke den Rechercheuren von Wikiquote sowie Garson O'Toole und besonders Basso Continuo für seinen Fund des Napoleon-Zitats von Johann Gottlieb Fichte.

Letzte Änderung: 26. Juni 2018

"Versuche nicht perfekt zu sein, denn du bist es schon." Immanuel Kant (angeblich)

Pseudo-Kant quote
Dieses Zitat wird seit ein paar Jahren Immanuel Kant unterschoben und hat gar nichts mit seiner Philosophie zu tun. Immanuel Kant hielt es für eine Pflicht, sich selbst vollkommener zu machen.

 Laut Google wurde dieses Pseudo-Kant-Zitat schon mehr als tausend Mal zitiert, auf Google Books oder Google News ist es noch nicht aufgetaucht; allerdings sind schon Pädagogen auf dieses Falschzitat hereingefallen.

  • "In Liebe, ich!‹
    Chon-Dat Nguyen, Videoclip, Deutschland 2016, 2:00 Minuten
    Basierend auf dem Kant-Zitat „Versuche nicht perfekt zu sein, denn du bist es schon“ erzählen junge Menschen in die Kamera warum es gut ist, größer, kleiner, dicker oder dünner, hell oder dunkel zu sein." In: DVD mit 7 Kurzfilmen, 107 Min., 2017 (Link)
  • "Der erstere Grundsatz der Pflicht gegen sich selbst liegt in dem Spruch: lebe der Natur gemäß (naturae convenienter vive), d. i. erhalte dich in der Vollkommenheit deiner Natur, der zweite in dem Satz: mache dich vollkommner, als die bloße Natur dich schuf (perfice te ut finem; perfice te ut medium)."
    Immanuel Kant: "Metaphysik der Sitten", 1797 (Link)
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Quellen:
Grundschule-hopsten.de
Evangelische Medienzentrale Bayern  (Link)

"Ich kann, weil ich will, was ich muss." Immanuel Kant (angeblich)


Pseudo-Immanuel-Kant-Zitat.
Diese Maxime steht in keiner Schrift von Immanuel Kant und ist inzwischen hauptsächlich deswegen weit verbreitet, weil sie seit dem Jahr 2000 in Ratgeberbüchern für Manager und Führungskräfte oft Immanuel Kant fälschlich zugeschrieben wird.

Der Spruch erinnert an die Redensart: "Wer kann, der will und wer will, der kann", aber er könnte auch als Variante des weltweit beliebten Kant-Zitats: "Du kannst, denn du sollst", entstanden sein, das (Überraschung!) allerdings auch nicht von Immanuel Kant stammt, sondern von Friedrich Schiller, der so viele deutsche Redensarten und Sprichwörter wie kaum ein anderer Autor geprägt hat.

Kant hat sein Postulat, eine moralische Norm müsse auch erreichbar sein, einmal in der ersten Person Plural formuliert: "wir müssen es auch können." Bei Fichte wurde daraus: »Ich kann, denn ich soll«, bei Hegel und Schopenhauer wurde es zu: "Du kannst, weil du sollst." Friedrich Schiller prägte die Maxime allerdings schon 1796, also Jahrzehnte vor Hegel und Schopenhauer.




Nicht nur in Zeitungen, auch in der Sekundärliteratur zu Kant wird die Kurzformel "Du kannst, weil du sollst", die einen Gedanken Kants paraphrasiert, oft Immanuel Kant irrtümlich zugeschrieben und nicht korrekter Weise Friedrich Schiller.


  • "Was ist aber von dem ruhmredigen Ausspruche der Kraftmänner [...] zu halten: »Was der Mensch will, das kann er«? Er ist nichts weiter als eine hochtönende Tautologie: was er nämlich auf den Geheiß seiner moralisch=gebietenden Vernunft will, das soll er, folglich kann er es auch thun (denn das Unmögliche wird ihm die Vernunft nicht gebieten)." - Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798), Erstes Buch, § 12. Vom Können in Ansehung des Erkenntnißvermögens überhaupt. In: Akademieausgabe Band VII, S. 14826f. --






  • "Die reine Vernunft enthält also, zwar nicht in ihrem spekulativen, aber doch in einem gewissen praktischen, nämlich dem moralischen Gebrauche, Prinzipien der Möglichkeit der Erfahrung, nämlich solcher Handlungen, die den sittlichen Vorschriften gemäß in der Geschichte des Menschen anzutreffen sein könnten. Denn, da sie gebietet, daß solche geschehen sollen, so müssen sie auch geschehen können, ..."
    Immanuel Kant: "Kritik der Reinen Vernunft", 1781(Link)
Varianten:
  • "Du kannst, denn du sollst."
  • "Du kannst, weil du sollst."
  • "Ich kann, denn ich soll." 
  • "You can, because you must!"
  • "You can because you ought."

1794, Kant:
  • "Denn, wenn das moralische Gesetz gebietet, wir sollen jetzt bessere Menschen sein: so folgt unumgänglich, wir müssen es auch können."
    Immanuel Kant: "Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft",  1793/94, AAVI, S. 50 (Link)
1796, Schiller:
  • "Auf theoretischem Feld ist weiter nichts mehr zu finden;
    Aber der praktische Satz gilt doch: Du kannst, denn du sollst!"
    Friedrich Schiller: "Die Philosophen", 1796 (Link)(Link)
1798, Fichte:
  • "Nicht von der Möglichkeit wird auf die Wirklichkeit fortgeschlossen, sondern umgekehrt. Es heisst nicht: ich soll, denn ich kann; sondern: ich kann, denn ich soll."
    Johann Gottlieb Fichte: "Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Welt-Regierung", 1798 Zur Religionsphilosophie (Link)
1816, Hegel:
  • "Du kannst, weil du sollst, dieser Ausdruck, der viel sagen sollte, liegt im Begriffe des Sollens. Denn das Sollen ist das Hinausseyn über die Schranke; die Grenze ist in demselben aufgehoben, das Ansichseyn des Sollens ist so identische Beziehung auf sich, somit die Abstraktion des Könnens. Aber umgekehrt ist es eben so richtig: Du kannst nicht, eben weil du sollst. Denn im Sollen liegt ebenso sehr die Schranke als Schranke; jener Formalismus der Möglichkeit hat an ihr eine Realität, ein qualitatives Andersseyn, sich gegenüber, und die Beziehung beider auf einander ist der Widerspruch, somit das Nicht-Können oder vielmehr die Unmöglichkeit."
    Georg Wilhelm Friedrich Hegel: "Wissenschaft der Logik", 1816, (Projekt Gutenberg)
1839, Schopenhauer:
  • "Zudem es auch wohl nicht die Absicht der Königlichen Sozietät sein kann, durch eine Hinzuziehung des Gewissens in das Selbstbewußtsein, die Frage auf den Boden der Moral hinübergespielt und nun K a n t s moralischen Beweis, oder vielmehr Postulat, der Freiheit aus dem  a  p r i o r i  bewußten Moralgesetz, vermöge des Schlusses "du kannst, weil du sollst", wiederholt zu sehen."
    Arthur Schopenhauer: "Über die Freiheit des menschlichen Willens." Preisschrift, Drontheim: 1839 (Link)


Pseudo-Immanuel-Kant-Zitat.


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Quellen:
Google-Statistik:  "Ungefähr 8 950 Ergebnisse" für "Ich kann, weil ich will, was ich muss. Kant"
Elektronische Edition von Immanuel Kants Gesammelten Werken: Universität Duisburg
(Die Suchfunktion dieser Edition ist leider fehlerhaft.)
Immanuel Kant: "Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft",  1793/94, AAVI, S. 50 (Link) 
Friedrich Schiller: "Die Philosophen", in: Musen-Almanach für das Jahr 1797, herausgegeben von Schiller, J.G. Cottaische Buchhandlung, Tübingen: (1796), S. 294 (Link)  
Friedrich Schiller Archiv: (Link) 

Karl Friedrich Wilhelm Wander: Deutsches Sprichwörter-Lexikon. 2. Bd. Gott bis Lehren, F.A. Brockhaus, Leipzig: 1870, S. 1495 (Link)
Johann Gottlieb Fichte: "Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Welt-Regierung", 1798, in:  Zur Religionsphilosophie (Link)
Klaus Steigleder: "Kants Konzeption der Moralphilosophie als 'Metaphyik der Sitten'." In: "Interdisziplinäre Ethik. Festschrift für Dietmar Mieth." Hrsg. von Adrian Holderegger u. Jean-Pierre Wils, Universitätsverlag Freib. CH, Herder Verlag, Wien: 2001, S. 101ff.
(Link)
David Baumgardt: "Legendary Quotations and the Lack of References." In: Journal of the History of Ideas 7 (1946) S. 99-102 (Zitiert nach Steigleder.)
Wolfgang Mieder: "'Zitate sind des Bürgers Zierde.' Zum Weiterleben von Schiller-Zitaten." In: "Deutsche Redensarten, Sprichwörter und Zitate: Studien zu ihrer Herkunft, Überlieferung und Verwendung." Edition Praesens, Wien: 1995, S. 46 ff. 
 

(Link)

Einige Beispiele für das Falschzitat:
Thorsten Hadeler: "Zitate für Manager: Für Reden, Diskussionen und Papers immer das treffende Zitat." Gabler, Wiesbaden: 2000, S. 84 (Link)
Ingo Reichardt, Anne Reichardt: "Treffende Worte: 3000 Zitate für Führungskräfte." Linde Verlag, Wien: 2003, S. 23 (Link)
Krawiez Consulting: "69 Zitate für die Persönlichkeitsentwicklung." Ohne Datum. (Das ist eine Sammlung von vielen falschen Zitaten.)  (Link)
Zitate-Online.de
EAG-FPI.com
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"Ich kann besser werden; .... Ich kann es, wenn ich muß."
Christian Erhard Schmid: "Versuch einer Moralphilosophie". 1790
(Link)
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 Artikel in Arbeit
"Ich kann weil ich muss und will. "1911 (Link)


Wolle nur, so kannst du (Link)


Zizek: (Link)